von Ulrich Kraft

Ohne technische Vorkenntnisse baut Künstlerin Anna Gutmann ein Gerät, das ihre halbseitig gelähmte Tochter Dindia vor einem Leben im Rollstuhl bewahrt. Damit auch andere Betroffene von der Technologie profitieren, gründeten sie gemeinsam das Start-up ReMoD. Eine jetzt gestartete Crowdfunding-Kampagne soll die Entwicklung des Remember Motion Device zum marktfähigen Medizinprodukt weiter vorantreiben.
Schwungvoll öffnet Dindia Gutmann die Tür der Altbauwohnung in Berlin Wedding. Mittelblonde Haare, kurzes Wollkleid, offenes, freundliches Lächeln, fester Händedruck. Auf dem ersten Blick eine ganz normale junge Frau. Beim Weg in die Küche fällt es aber doch ein wenig auf. Die 26-Jährige knickt leicht ein, wenn sie ihr linkes Bein bewegt. Ein kleines Humpeln, womöglich wegen Hüftproblemen, könnte man denken. Tatsächlich ist Dindia Gutmann auf Grund eines Schlaganfalls von Geburt an halbseitig gelähmt. Doch statt ein Leben lang im Rollstuhl zu sitzen, wie Ärzte ihr schon vor Jahren prophezeiten, unternimmt sie leidenschaftlich gern lange Wanderungen, reist allein um die Welt und trifft sich mit Freunden zum Tanzen in der Disco.
Dabei hilft ihr eine Art Weste, die sie um die Schultern trägt. In deren Inneren befinden sich Lage- und Bewegungssensoren, die mit zwei im Bereich des Schlüsselbeins auf die Haut geklebten Elektroden verbunden sind. „Hemiparesepatienten können die eine Körperhälfte nicht richtig wahrnehmen und kontrollieren. Aus diesem Grund halten sie sich sehr häufig schief“, erklärt Dindia Gutmann. „Das Gerät gibt mir dann einen elektrischen Impuls, der mich dazu veranlasst, mich aufzurichten.“ Remember Motion Device oder kurz ReMoD heißt das innovative System. Dindias Mutter Anna Gutmann hat es entwickelt.
Aufgeben ist keine Option
2013 gründeten Mutter und Tochter gemeinsam gemeinsam ein Start-up, mit dem Ziel, ReMoD als Medizinprodukt auf den Markt zu bringen. Ein langer steiniger Weg, der „extrem viel Arbeit und Durchhaltevermögen“ erfordert, wie Anna Gutmann heute sagt. Oft beschäftigt sie sich von morgens bis in die Nacht mit dem Projekt. Für ihren eigentlichen Beruf – die Malerei – bleibt der Künstlerin kaum Zeit. Die Flinte einfach ins Korn zu werfen, kommt für die schmale Frau mit dem entschlossenen Gesicht aber trotzdem nicht in Frage. „Wir wissen, dass unser Gerät auch vielen anderen Menschen helfen könnte – und das hält uns dabei“, betont Anna Gutmann. Dafür sprechen die Zahlen der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe. Demnach erleiden pro Jahr fast 270.000 Bundesbürger einen Schlaganfall, darunter etwa 300 Kinder und Jugendliche. Etwa jeder zweite Überlebende trägt dabei Lähmungserscheinungen davon, die zumeist nur eine Körperhälfte betreffen – so wie bei Dindia Gutmann.
Ein gewisses Grundverständnis für die menschliche Physiologie brachte ihre erfinderische Mutter aus dem Biologiestudium mit. Niemals aufzustecken lernte Anna Gutmann, die im Ruhrpott aufgewachsen ist, bereits von Kindesbeinen ein. „Mein Vater war Entwickler beim Stahlkonzern Hoesch“, erzählt die 67-Jährige. „Daher weiß ich, dass man Probleme anpacken muss.“ Die Probleme ihrer Tochter fielen im Alter von drei Monaten erstmals auf. Bei der routinemäßigen kindlichen Vorsorgeuntersuchung bemerkte der Arzt, dass die linke Seite nicht auf Berührungen und Schmerzreize reagierte. Als die Kleine zu laufen begann, wurde es dann zur schrecklichen Gewissheit: Dindia hat eine halbseitige Lähmung, im Fachjargon Hemiparese genannt – verursacht durch einen Schlaganfall, den sie drei Monate vor der Geburt im Bauch der Mutter erlitt.
Mutter wacht, Tochter macht
Dass ihr Kind gelähmt bleiben wird, machten die Ärzte Anna Gutmann unmissverständlich klar. Deshalb zielte die Therapie darauf ab, die Folgeerscheinungen abzumildern. Durch die Hemiparese entwickeln sich die Muskeln zurück, es kommt zu Fehlhaltungen, Verschleißerscheinungen an den Gelenken, Schmerzen und spastischen Krämpfen. Doch trotz intensiver Behandlung fiel Dindia das Gehen immer schwerer, jeder Schritt tat weh, sie hatte Schwindelanfälle, stürzte häufig. Mit elf Jahren konnte sie nur noch maximal 200 Meter zu Fuß zurücklegen. Dass sie von anderen Kindern wegen ihrer Behinderung gehänselt und ausgeschlossen wurde, setzte ihr auch psychisch mehr und mehr zu. „Die Ärzte sagten, dass Dindia austherapiert ist und es keine Hoffnung auf Besserungen gibt“, erinnert sich Anna Gutmann. „Doch meine Tochter wollte das nicht akzeptieren, und deswegen konnte ich es auch nicht hinnehmen.“
Um den Kopf frei zu bekommen, zogen die Gutmanns quasi über Nacht von ihrem damaligen Wohnort Wien nach Berlin. Dort entwickelte Anna Gutmann ein Trainingsprogramm, das Dindia trotz der Lähmung das Gehen ermöglichen sollte. Sie bringt ihrer Tochter bei, wie sie den linken Fuß leicht anheben und das rechte Bein belasten soll, damit das gelähmte linke nachschwingen kann. Entscheidend ist dabei, dass Dindia sich aufrichtet und eine gerade Haltung einnimmt. „Dafür musste ich erst lernen, wie es sich überhaupt anfühlt, gerade zu stehen“, erzählt sie. Mit viel Übung gelang es ihr schließlich, aufrecht zu laufen, – allerdings nur, wenn Mutter Gutmann die Bewegungen kontrollierte. „Mama stand nebendran und hat mir immer wieder gesagt, was ich tun soll“, berichtet Dindia.
Quecksilberschalter als Lösung
„Eine dauerhafte Lösung war das aber selbstverständlich nicht“, sagt Anna Gutmann. „Deshalb entstand die Idee, ein Gerät zu bauen, das mich als Aufpasser ersetzt.“ Da sie keinerlei technische Vorkenntnisse besitzt, ging Gutmann fast täglich in den Elektronik-Fachmarkt um die Ecke, ließ sich beraten und kaufte alles, was ihr irgendwie geeignet erschien. Darunter war auch ein Quecksilberschalter, der auf Neigung reagiert. An den lötete Gutmann eine Stromquelle, klebte das Konstrukt mit Paketband an die Kleidung der Tochter und verband es mit einer Taschenlampe. Immer wenn Dindia sich schief hielt, fing die Lampe an zu leuchten. „Anfangs fand ich das ständige Geblinke so peinlich, dass wir im Dunkeln in den Wald fahren mussten, um dort heimlich zu üben“, erinnert sich die junge Frau und lacht.
Doch die abenteuerliche Apparatur funktionierte. Mit ihrer Hilfe konnte Dindia bereits nach wenigen Tagen flüssig und rund gehen. Als sie merkte, dass die Welt dabei nicht mehr wie gewohnt wackelt, erwachten ihr Wille und Ehrgeiz vollends. „Es gab Nächte“, erzählt Mutter Anna, „da stand sie vor meinem Bett und sagte: Komm, lass uns trainieren!“. Da Dindia schnell Fortschritte machte, war der Quecksilberschalter irgendwann nicht mehr empfindlich genug. Um ihre Erfindung zu verfeinern, fehlte Anna Gutmann allerdings das nötige Know-how. 2008 las sie dann auf einem Plakat zur Langen Nacht der Wissenschaften das Wort Medizintechnik – „bis dahin wusste ich nicht einmal, dass es so etwas gibt“. Sie recherchierte und saß kurz darauf im Büro von Wolfram Roßdeutscher an der Technischen Universität Berlin. Der Medizintechniker, der an elektronischen Hilfsmitteln für Behinderte forscht, ist von Anna Gutmanns Idee sofort begeistert und bietet seine Hilfe bei der Weiterentwicklung an. „Da habe ich das erste Mal Unterstützung von Experten bekommen“, sagt Gutmann.
Von der Taschenlampe zum Minicomputer
Wie viele Prototypen seitdem entstanden sind, hat sie schon gar nicht mehr genau im Kopf. Die neueste Variante des Remember Motion Device trägt Tochter Dindia gerade. Mit einer Art Weste im Schulterbereich angebrachte 3D-Beschleunigungs- und Lagesensoren detektieren die Position der Schultern. Weicht sie von der Horizontalen ab, gibt der Steuerungscomputer über links und rechts am Schlüsselbein aufgeklebte Elektroden kleine Stromschläge ab. Die elektrischen Reize machen das, was früher ihre Mutter machen musste: Sie geben Dindia den „Befehl“, ihren Oberkörper aufzurichten und die abgesunkene Schulter anzuheben. „Schon nach kurzer Zeit nehme ich die Impulse nicht mehr bewusst wahr, und trotzdem halte ich mich richtig“, sagt sie. „Das geht fast automatisch.“
Wie Tests zeigen, kann das Gerät nicht nur halbseitig Gelähmten helfen, sondern auch Patienten mit verformter Wirbelsäule (Skoliose) und Haltungsschäden. 2013 wurde das Patent für ReMoD erteilt. Im Spätsommer des gleichen Jahres erhielten die Entwickler an der TU und die Gutmanns vom Europäischen Sozialfonds ein Stipendium zum Bau eines Prototypen. 2014 folgte das EXIST-Gründerstipendium des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, mit dem die Gründerinnen die Weiterentwicklung zu einem marktreifen Prototyp finanzierten. Zu diesem Förderprogramm gehörten auch Schulungen über Geschäftsaufbau und Unternehmensführung, die Anna Gutmann rückblickend noch wertvoller findet als die Geldmittel. Am wichtigsten sei aber die ideelle Unterstützung, betont sie. „Wir sind jetzt in ein großartiges Netzwerk von Leuten eingebunden, die uns sehr helfen – gerade auch in schwierige Zeiten.“
Steiniger Weg zum Medizinprodukt
Die stehen dem ReMoD-Team jetzt wieder ins Haus. Sie wollen ihr innovatives Gerät als Medizinprodukt auf den Markt bringen. „Hätten wir gewusst, was das alles mit sich bringt, hätten wir es womöglich gelassen“, sagt Anna Gutmann. „Die Hürden für die Zulassung sind unfassbar hoch.“ Einige haben die Frauen bereits genommen. So liegt die CE-Kennung vor, an der Cornelius Praxisgruppe in Solingen wird ReMod inzwischen in einer klinischen Studie erprobt, und auch einen potenziellen Hersteller haben Mutter und Tochter schon gefunden. Beim Bewältigen der komplizierten Regularien würden sich beide mehr Unterstützung wünschen. „Wir haben schon manchmal das Gefühl, wenn ein Berg überwunden ist, kommen zwei neue dazu“, sagt Dindia.
Der Weg zum zugelassenen Medizinprodukt kostet nicht nur Nerven und Zeit, sondern auch Geld. Anfragen von Investoren gibt es immer wieder, doch die verfolgten bislang alle eine Exit-Strategie. „Das wollen wir nicht“, stellt Anna Gutmann mit energischer Stimme klar. „Wir suchen Leute, die an einem langfristigen Engagement interessiert sind.“ Vorerst haben sie sich entschieden, die Fäden selbst in der Hand zu behalten und deshalb eine Crowdfunding-Aktion initiiert. Mindestens 20.000 Euro soll die Kampagne einspielen. Ein Teil davon wird in Modifikationen an Steuerungsgerät und Software fließen. Außerdem sollen die Haltbarkeit verbessert und die Defektanfälligkeit verringert werden. Vor allem die Kabelverbindungen sorgen immer wieder für Probleme und Ausfälle.
Frei und selbstständig dank ReMoD
Dindia Gutmann kommt mittlerweile auch ein paar Tage ohne die Weste klar. Trägt sie ReMoD länger nicht, verschlechtert sich ihre Bewegungsfähigkeit allerdings wieder, und sie bekommt Rückenschmerzen. „Es ist ein Trainingsgerät, das nur etwas bringt, wenn man es regelmäßig benutzt“, weiß die Jungunternehmerin. „Und je öfter man es benutzt, desto mehr bringt es.“
Was die innovative Idee der Mutter ihr gebracht hat, fasst Dindia Gutmann mit zwei Worten zusammen: Selbständigkeit und Freiheit. Früher fuhr sie maximal eine Woche alleine weg, länger wollte und konnte sie auf das Übungsprogramm mit „Aufpasser Anna“ nicht verzichten. Seit Dindia ReMoD hat, verbrachte sie ein Jahr zum Studium in Lissabon, ein weiteres in Amsterdam und reiste drei Monate zu ihrem Vater nach Israel. „Das Gerät ermöglicht es mir, ein ganz normales Leben zu führen“, sagt sie.
Auf die Frage, wann auch andere Menschen mit einer Hemiparese vom Remember Motion Device profitieren werden, hebt Anna Gutmann die Schultern. Statt in die Zukunft zu denken, handle sie lieber im jetzt – da wäre sie immer noch ganz Künstlerin, sagt die 67-Jährige mit ihrem charmanten Lächeln. „Wir gehen Schritt für Schritt weiter.“ Getreu dem Unternehmensmotto: Walking towards a better future.