Berliner Zeitung, 27. Mai 2015

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berliner zeitung Am 13. Juni öffnen 73 Forschungseinrichtungen in Berlin und Potsdam ihre Türen zur Langen Nacht der Wissenschaften. Tickets gibt es ab Donnerstag. Wir präsentieren die ersten Highlights aus dem Programm.
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Dindia Gutmann kann spazieren gehen, zur U-Bahn rennen, oder wandern. Ein wenig knickt sie ein, wenn sie das linke Bein bewegt, es ist ein kleines Humpeln, das kaum auffällt, vielleicht so, als hätte sie sich den Fuß verstaucht. Aber niemand sieht der 24-jährigen Studentin an, dass sie ihr linkes Bein kaum spürt, es eigentlich nicht bewegen kann. Niemand sieht, dass Dindia Gutmann an Hemiparese leidet, einer halbseitigen Lähmung, für die es bislang keine Heilung gibt.

Hemiparese tritt häufig in Folge eines Schlaganfalls auf, jeder zweite Schlaganfallpatient hat damit zu kämpfen, die meisten sind früher oder später auf den Rollstuhl angewiesen. Dass Dindia heute wieder laufen kann, verdankt sie ihrer Mutter und deren Begegnung mit einem Forscherteam der Technischen Universität (TU) Berlin bei der Langen Nacht der Wissenschaften im Jahr 2008. Denn Anna Gutmann hat ein Gerät erfunden, das Dindia das selbstständige Laufen ermöglicht.

Dindia Gutmann erlitt im sechsten Schwangerschaftsmonat im Bauch ihrer Mutter einen Schlaganfall und ist seit ihrer Geburt halbseitig gelähmt. Bei der Hemiparese ist die Kommunikation des Gehirns mit den Gliedmaßen einer Körperhälfte zerstört. Betroffene können ihre Bewegungen und Haltung nicht kontrollieren. Durch Fehlhaltung entstehen Schäden an Gelenken und Wirbeln. Mit elf Jahren konnte Dindia Gutmann kaum mehr gehen, ohne sich vor Schmerzen zu krümmen. Andere Kinder schlossen sie aus, Ärzte prognostizierten eine Zukunft im Rollstuhl.

Mit viel Übung konnte Dindia schließlich aufrecht gehen – jedoch nur, wenn ihre Mutter jede Bewegung kontrollierte. „Das konnte selbstverständlich keine Dauerlösung sein“, sagt Anna Gutmann heute, „ich musste ein Gerät finden, das mich als Aufpasser ersetzt.“ Weil es ein solches Gerät bislang nicht gab, erfand Anna Gutmann kurzerhand selbst eines. Ohne technische Vorkenntnisse und mit Zubehör aus dem Baumarkt fing sie an zu basteln. Hilfe bekam sie zunächst von keiner Seite. Die Mitarbeiter im Baumarkt wollten sie nicht bedienen, Ärzte warfen ihr vor, dem Kind Hoffnungen auf etwas zu machen, das niemals funktionieren könnte. Doch dann wurde Anna Gutmann bei einer Langen Nacht der Wissenschaften auf Wolfram Roßdeutscher vom Fachbereich Medizintechnik der TU aufmerksam. Er war bereit, ihr zu helfen.

Anna und Dindia Gutmann wollen Start-up gründen

So entwickelte ein Team aus Mitarbeitern und Studenten Anna Gutmanns Prototypen weiter, bis Remod entstand: ein Gerät, das über Sensoren an Dindias Rücken messen kann, ob sie sich richtig bewegt und aufrecht steht. Sobald sie sich zur Seite neigt, gibt das Gerät über Elektroden an ihrem Schlüsselbein kleine Stromschläge ab. Diese können die Muskeln nicht aktiv bewegen, aber sie erinnern Dindia daran, welche Bewegung sie machen, welche Haltung sie einnehmen muss. „Man nimmt die Impulse schon bald nicht mehr bewusst wahr, bewegt sich dann fast automatisch“, sagt Dindia. Mittlerweile kommt sie auch mal ein paar Tage ohne Remod aus.

Mit Unterstützung der TU wollen Anna und Dindia Gutmann Remod nun auf den Markt bringen und sind dabei, ein Start-up zu gründen. „Wir sind überzeugt davon, dass wir damit vielen Menschen helfen können“, sagt Anna Gutmann. Das Gerät eigne sich nicht nur zur Hemiparesetherapie, sondern beispielsweise auch zur Behandlung von Haltungsschäden bei Kindern, wie Skoliose.

Das fünfköpfige Remod-Team wird durch das Exist-Stipendium gefördert und vom Gründungszentrum der TU auf die Gründung vorbereitet. „Wir bekommen unglaublich viel Unterstützung, man nimmt sich immer Zeit für uns, wenn wir Fragen oder Probleme haben“, sagt Anna Gutmann.

Um als Medizinprodukt zugelassen zu werden, muss der Prototyp des Geräts Zulassungsverfahren und klinische Tests bestehen. Anna und Dindia Gutmann wollen Remod aber schon Anfang 2016 auf den Markt bringen. Sie sind zuversichtlich, haben gelernt, an sich zu glauben: „Ich habe meiner Mutter nicht zugetraut, dass sie es schaffen könnte, mir zu helfen“, sagt Dindia, „aber dann hat sich alles verändert. Ich bin selbstständig geworden und selbstbewusst. Jeder Schritt ist für mich eine Anstrengung, die ich machen muss, aber nun eben auch machen kann. Das ist der Unterschied.“

Das Remod-Projekt in der Langen Nacht im TU Hauptgebäude, Foyer links, und in der Wissenschaftsshow im Audimax, 19.40–20.00 Uhr.

Lange Nacht der Wissenschaften Berlin und Potsdam, Samstag, 13. Juni 2015, 17 bis 24 Uhr.